Das Siegerprojekt hat so manchen Skeptiker. Vor allem Spezialisten warnen vor Defiziten in der Arbeitssicherheit.
08.02.2024 11:33
Schiffländi wird zum Stolperstein
Spezialisten warnen: Das Siegerprojekt birgt Gefahren
Fachleute in Sachen Arbeitssicherheit sind erstaunt und besorgt über die neuen Umstände, welchen das Personal der drei Gastrobetriebe bei einem «Ja» zum Projekt auf der Schifflände künftig ausgesetzt werden. Das Verletzungspotenzial steigt massiv an, die Versicherungsprämien steigen bei vermehrten Unfällen und die Arbeitgeber geraten unter Druck beim Befolgen der Obhutspflicht - und das alles ohne Not.
Stein am Rhein Die Gäste sollen bekanntlich nicht mehr an der Fassade, sondern über der Strasse bedient werden. «Das Personal müsste so über die befahrene Strasse laufen, um die Tische zu erreichen. Dazu könnten sie nicht parterre wie bisher servieren, sondern eine Treppe benutzen, um die Speisen abzuholen», erklärt Antonio Alibrando, Präsident des Gewerbevereins. «Warum dieses als Siegerprojekt auserkoren wurde, ist für mich unverständlich», so Alibrando. Wie bereits darüber berichtet, sind viele der Gastronomen seiner Meinung. Ein Thema wurde bisher noch nicht im Detail besprochen: Die Arbeitssicherheit des Personals. «In Ascona sieht man es nicht selten, dass das Servicepersonal eine Strasse überqueren muss. Doch das heisst noch lange nicht, dass es gut ist». Die Chance für Arbeitsunfälle erhöhe sich durch die neuen Bedingungen für das Servicepersonal massiv, meint ein Experte für Sicherheit am Arbeitsplatz. Der bisher ebene Holzboden war seiner Meinung nach optimal. Auch wenn die jetzigen Pflastersteine durch andere ersetzt werden, wird der Boden uneben sein. Ist ein Untergrund nicht stabil, stellt dieser hohe Anforderungen ans Schuhwerk. Die Stolpergefahr ist erheblich. Dazu sorgen die längeren Wege zur schnelleren Ermüdung und die Sturzgefahr erhöht sich weiter, erfahren wir. Die grössten Sorgen macht den Befragten Spezialisten die Treppe. Die Treppe hat mehrere Stufen, ab fünf wäre ein Handlauf obligatorisch. Beim Servieren hat man beide Hände voll. So bringt auch ein Handlauf nichts. An die Folgen eines Sturzes mit einem Tablar voller Gläser möchte man gar nicht denken. Laut der SUVA machen Unfällen in der Gastro beim Benutzen einer Treppe 11.9 Prozent aus – sprich jeder achte Unfall geschieht beim Treppenlaufen.
Arbeitgeber stehen in der
Obhutspflicht
Dass das Personal die Strasse überqueren muss, ist allen Befragten ebenfalls ein Dorn im Auge. Die Autos fahren mit 40 KMh über die Schiffländi. Und nicht nur Personenwagen passieren die Strasse: Laut Alibrando nutzen auch grössere Transporter von Getränkelieferanten und Zulieferer einer Bäckerei und Metzgerei die Strasse. Eine Alternative haben diese nicht. Der Arbeitgeber steht in der Obhutspflicht. Falls es tatsächlich zu einem Unfall mit einem Auto oder Velo kommt, wird der Fall vermutlich von den Behörden untersucht. Wurden vom Arbeitgeber nicht alle möglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, könnte dies rechtliche Folgen für ihn haben. Carmen Broger von der Mobiliar ergänzt: «Prämien können grundsätzlich steigen, wenn ein Betrieb überdurchschnittlich viele und teurere Unfälle im Verhältnis zu anderen Betrieben der gleichen Branche aufweist.» Während des Services von einem Auto oder Velo angefahren zu werden, ist nach Prüfung der Statistiken der SUVA nirgends als Gefahrenquelle aufgeführt. «Warum auch? Welches Restaurant setzt sein Personal solch einer Gefahr aus?», so Alibrando entsetzt. Und dies ohne Not. Ob es künftig ein Veloverbot gibt, ist noch nicht in Stein gemeisselt. Der motorisierte Verkehr würde hingegen weiterhin bestehen für die Anwohner. Der Arbeitgeber sei laut Alibrando verpflichtet, für seine Mitarbeitenden einen geschützten Arbeitsbereich zu schaffen und sei für deren Gesundheit während der Arbeitszeit verantwortlich. Die SUVA bestätigt Alibrandos Bedenken: «Sicherheit ist Chefsache. Denn als Arbeitgeberin oder Arbeitgeber tragen diese die Verantwortung für die Arbeitssicherheit. Wer dies vernachlässigt, kann bei einem Unfall strafrechtlich belangt werden», so der Unfallversicherer. Arbeitnehmende hätten dazu das Recht «Stopp» zu sagen, wenn sie sich nicht sicher am Arbeitsort fühlen. Somit ist es möglich, dass sich die Servicefachkräfte weigern, unter den neuen Bedingungen zu arbeiten.
Beratung notwendig
Wir haben dem Verein GastroSuisse die Situation erläutert. Diese weisen auf die Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit EKAS als zentrale Informations- und Koordinationsstelle für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz hin. Ob eine Prüfung der EKAS geplant ist, ist uns nicht bekannt. Diese koordiniert die Präventionsmassnahmen, die Aufgabenbereiche im Vollzug und die einheitliche Anwendung der Vorschriften. Ihre Beschlüsse sind verbindlich. Es wäre spannend zu erfahren, ob das Siegerprojekt bei einer Prüfung «durchkommen» würde.
Projekt soll zurückgewiesen werden
Stadtrat Christan Gemperle habe laut Alibrando viele schöne Attribute für das Projekt in peto. «Aber ich habe noch keine K.O.-Punkte für die Vorschläge der anderen fünf Projekte, die eingereicht wurden», so der Gewerbeverein Präsident. Es ist ihm weiterhin ein Rätsel, warum die Siegervariante vom Beurteilungskommitee gewählt wurde. Es ist die einzige Variante, welche die Gastronomie nicht an der Fassade geplant hat. Er hofft, dass der Einwohnerrat am 12. April so «vernünftig sei, und das Projekt zurückweist. Dass sich der Stadtrat noch einmal Gedanken zu ihrem Vorhaben macht.» Wenn dieser an dem Siegerprojekt festhält, entscheidet das Volk am 9. Juni über den dazugehörenden Kredit über den Umbau der Schiffländi. «Der Gewerbeverein möchte nicht auf Angriff gehen. Doch der Sicherheitsaspekt muss noch einmal überdacht werden. Vielleicht finden wir einen Kompromiss, bei dem das Personal nicht den massiven Gefahren ausgesetzt wird.»
Von Desirée Müller