Es gab Fälle, in denen die Behörden einer Adoption zustimmten, ohne dass ihnen die Verzichtserklärung der indischen Eltern beziehungsweise der Mutter vorlag. Symbolbild
01.10.2024 15:22
Studie zeigt Mängel bei früherer Adoptionspraxis
Die Kantone Zürich und Thurgau haben die Praxis bei Adoptionen aus Indien in den Jahren 1973 bis 2002 untersuchen lassen. Die nun vorliegende Forschungsarbeit kommt zum Schluss, dass die damals zuständigen Stellen der beiden Kantone ihre Verantwortung nicht ausreichend wahrgenommen hatten.
Thurgau Die Studie «Mutter unbekannt – Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973 - 2002» zeigt exemplarisch auf, dass die damals verantwortlichen Stellen der beiden Kantone in der Mehrzahl der untersuchten Fälle die in der Schweiz geltenden Vorschriften nicht durchgesetzt hatten. Sie akzeptierten, dass ihnen zentrale Dokumente fehlten. Zudem liess der Kanton Zürich eine Vermittlungsstelle gewähren, die nicht über die nötige Bewilligung verfügte. Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass die Praxis bei Adoptionen aus Indien mit Mängeln behaftet war. Diese Mängel betrafen den gesamten Prozess. Sie begannen bereits vor der Aufnahme der indischen Kinder, setzten sich während des Pflegeverhältnisses fort und endeten beim Adoptionsentscheid. Unter anderem gab es Fälle, in denen die Behörden einer Adoption zustimmten, ohne dass ihnen die in der Schweiz gesetzlich verlangte Verzichtserklärung der indischen Eltern beziehungsweise Mutter vorlag. Die Analyse von 48 Adoptionsfällen zeigt auf, dass es sich dabei um einen systematischen Mangel handelt, der auch für Indien-Adoptionen in anderen Kantonen relevant sein dürfte. Kurz: Wie das Beispiel Indien zeigt, nahmen die damals zuständigen Stellen der beiden Kantone im Zeitraum 1973 bis 2002 ihre Verantwortung im Bereich Auslandsadoptionen nicht im erforderlichen Mass wahr. Landesweit adoptierten Schweizer Eltern zwischen 1979 und 2002 2278 Kinder aus Indien. 256 Adoptionen betreffen den Kanton Zürich, 30 den Kanton Thurgau. Die Ergebnisse der Untersuchung zu den Kantonen Zürich und Thurgau passen zu den Resultaten, die andere Studien mit kantonalem oder eidgenössischem Fokus ergeben haben. Auch diese zeigten Defizite im Bereich der Aufsicht bei internationalen Adoptionen auf. Der vorliegende Forschungsbericht ergänzt seine Aussagen zur hiesigen Adoptionspraxis durch Befunde, die sich aus Recherchen in Indien ergeben haben, sowie durch Interviews mit Adoptiveltern und adoptierten Personen.
Dreiköpfiges Forscherinnenteam
Den Auftrag zur Untersuchung vergaben die Regierungsräte der beiden Kantone an ein Forscherinnenteam. Es setzte sich aus den Ethnologinnen Rita Kesselring (Professorin an der Universität St. Gallen) und Andrea Abraham (Professorin an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit) sowie der Historikerin Sabine Bitter zusammen. Der Lenkungsausschuss des Projekts stand unter der Leitung der beiden Staatsarchivare Beat Gnädinger (Zürich) und André Salathé (Thurgau). Der Auftrag an die Forscherinnen bestand darin, eine unabhängige, historisch-kritische Studie und eine Webseite zum Thema (Auslands-)Adoptionen in den Kantonen Zürich und Thurgau in den Jahren 1973 bis 2002 zu erarbeiten. Nebst dem rechtlichen Rahmen und der kantonalen Aufsichtspraxis sollten Indien als wichtigstes Herkunftsland sowie das so genannte Adoptionsdreieck im Zentrum stehen – also nicht nur die Adoptierten und die Adoptiveltern, sondern auch die leiblichen Eltern, insbesondere die Mütter.
Unterstützung bei Herkunftssuche
Für den Zürcher Staatsarchivar Beat Gnädinger steht die Studie zur Adoptionspraxis in einem grösseren Kontext. Historische Forschungsarbeiten in verschiedenen Bereichen hätten in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Differenzierung und Veränderung des Geschichtsbildes geführt. So sei es etwa gelungen, die Praxis der administrativen Versorgungen und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aufzuarbeiten und das Handeln neu auszurichten. Für den Thurgauer Staatsarchivar André Salathé veranschaulicht die Studie die Komplexität des Themas der Auslandsadoptionen. Zudem zeige sie auf, wie anspruchsvoll es sei, den Betroffenen bei ihrer Herkunftssuche zu helfen. Diese Hilfe sei aber wichtig. Im Ungewissen zu leben, sei für die Betroffenen eine schwere Last. Die Kantone Zürich und Thurgau haben bereits vor Jahren Massnahmen ergriffen, um betroffene Menschen bei der komplexen und kostspieligen Suche nach ihren Wurzeln wirksam zu unterstützen: Seit 2018 sind für die Herkunftssuche im Thurgau die Zentrale Behörde Adoption im Departement für Justiz und Sicherheit zuständig.
Zahlreiche Verbesserungen
Mit Blick auf die Gegenwart gilt es festzuhalten, dass es in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Bereich der Adoptionen zu grundlegenden Verbesserungen gekommen ist. 2003 trat das Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption für die Schweiz in Kraft. Dieses regelt die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden im Herkunftsland und im Aufnahmestaat. Seit 2003 ist in jedem Kanton eine einzige Behörde für Adoptionen zuständig, die sich nach den Standards des Haager Adoptionsübereinkommens richtet. Ergänzend dazu hat der Verband der kantonalen Zentralbehörden Adoption nationale Standardisierungen erarbeitet. Diese Massnahmen haben die Perspektive der betroffenen Kinder in den Mittelpunkt aller behördlichen Bemühungen gerückt und zur Professionalisierung der Behörden beigetragen. Die politischen Verantwortlichen in den Kantonen werden die im Forschungsbericht formulierten Erkenntnisse und Empfehlungen prüfen und sich zu einem späteren Zeitpunkt dazu äussern.
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