29.09.2023 09:03
«Es gab Momente, in denen ich mich im freien Fall befand»
Peter Gross aus Müllheim hat seine Lebens- und Leidensgeschichte aufgeschrieben
Eine schwierige Kindheit, dann psychische Probleme als Erwachsener: Peter Gross hatte es nicht leicht, konnte sich aber ins Leben zurückkämpfen. Seine Geschichte soll anderen Betroffenen Mut machen.
Herr Gross, Sie hatten eine schwere Kindheit. Was haben Sie erlebt?
Ich wuchs mit einem jähzornigen, gewalttätigen Vater und einer kühlen Mutter auf, die mir kaum Zuwendung schenkte. Es war schon fast an der Tagesordnung, dass es bei kleinsten Verstössen eine Tracht Prügel absetzte. Das Schlimme war, dass ich nie wusste, mit welchen Gegenständen und wie hart die Bestrafung ausfallen wird. Somit war ich jeweils der Willkür des Vaters ausgeliefert. Später, als meine Mutter einen neuen Partner hatte, kam die psychische Gewalt dazu. Das ungeliebte Kind war ein Störfaktor. Ich wurde über Jahre ins Kinderzimmer verbannt.
Das ist ja schlimm. Wie hat sich das auf Ihr Selbstwertgefühl ausgewirkt?
Wenn Dir als Kind eingetrichtert wird, dass Du nichts kannst oder in der Familie unerwünscht bist, ist der Wille sehr schnell gebrochen.
Welche Schwierigkeiten hatten Sie als Erwachsener?
Als Erwachsener rutschte ich langsam, aber unausweichlich in eine tiefe persönliche Krise. Zudem kam es immer wieder zu beruflichen Problemen. Es folgten körperliche Zusammenbrüche. Ich erkannte, dass ich dringend psychologische Hilfe benötige. Ich musste meine kindlichen Traumata und meine schwierige Familiengeschichte bewältigen, um ein stabiles Selbstwertgefühl aufzubauen und meine eigenen Bedürfnisse endlich zu erkennen.
Was waren die Gründe für die Schwierigkeiten?
Im Berufsleben geriet ich immer öfters an Menschen, die mich getriggert haben. Natürlich setzte ich mich zur Wehr, allerdings mit den falschen Mitteln. Der Schuss ging jeweils nach hinten los. Die Folge war, dass ich als unangenehmer Arbeitnehmer aufgefallen bin und erneut vor einem Scherbenhaufen stand. Heute habe ich Skills, auf die ich zurückgreifen kann. In heiklen Situationen kann ich adäquat reagieren und die richtigen Schlüsse ziehen.
Sie haben sich zurück ins Leben gekämpft. Erinnern Sie sich an den Wendepunkt, wenn es denn einen gab?
So ist es. Bevor es jedoch so weit war, dass ich am öffentlichen Leben wieder teilnehmen konnte, dauerte es insgesamt über vier Jahre. In dieser Zeit gab es immer wieder Rückschläge. Es gab Momente, wo ich mich im freien Fall befand. Wenn ich das Gefühl hatte, dass ich etwas stabiler unterwegs bin, kam bestimmt der nächste Hammerschlag der IV-Stelle Frauenfeld. In diesen Momenten war ich nicht mehr fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Solche Entscheide hauen einen Patienten enorm zurück – dies war auch bei mir der Fall. Heute frage ich mich, wie es überhaupt möglich war, dass ich wieder selbstständig auf den Beinen stehen kann. Menschen halten sehr viel aus – einige zerbrechen an dieser Last, andere wachsen über sich hinaus und zapfen die letzten Reserven an.
Wie ging Ihr Weg weiter?
Ich bin buchstäblich durch alle Auffangnetze durchgefallen, die die Schweiz hat. Von den Amtsstellen hörte ich immer wieder: «Wir sehen, Sie sind in einer schwierigen Situation, aber wir können ihnen nicht helfen». Am Schluss erkannte ich, dass mein Hilferuf nicht ernst genommen wird. Wie so oft in den letzten 10 Jahren nahm ich mein Schicksal selber in die Hand. Ich wählte einen Weg der speziellen Art. In meiner Verzweiflung kontaktierte ich diverse Stadtpräsidenten in der Region. Alle haben geantwortet, aber nur einer, der Frauenfelder Stadtpräsident Anders Stokholm, versuchte, mir mit seinen Kontakten diverse Türen zu öffnen.
Welche Rolle haben Medikamente dabei gespielt?
Am Anfang war ich skeptisch. Aber wenn Du depressiv wirst und über Jahre immer wieder dieselben kreisenden Gedanken hast und nicht mehr schlafen kannst, ist eine medikamentöse Behandlung das richtige. Die Medikamente halfen mir den Alltag zu bewältigen.
Wie hat Ihnen das Schreiben bei der Bewältigung geholfen?
Für mich war es befreiend. Es war der letzte Therapieschritt, den ich machen wollte. Nach all dem Leid, das ich und auch meine Partnerin durchlebten, fand ich es wichtig, diese Geschichte zu veröffentlichen. Somit war es mir möglich, den vielen Menschen, die in einer ähnlichen Situation stecken, ein Gesicht zu geben. Über viele Jahre wurden meine körperlichen Beschwerden nur belächelt. Vom Arbeitgeber wurde ich immer wieder als Simulant hingestellt. Ein Vorgesetzter stempelte mich als «Kümmerchenfall» ab. Ein anderer sagte, ich soll mich nicht so «memmenhaft» verhalten. Aussagen, die ich auch noch heute als Respektlosigkeit wahrnehme. Mit diesem Buch hatte ich für mich ein Mittel gefunden, Missständen, die in unserem Land herrschen, Gehör zu verschaffen. Beim Schreiben war es mir wichtig, dass meine Geschichte nie in Vergessenheit geraten wird.
In Ihrem Buch üben Sie Kritik am Staat. Wo sehen Sie das grösste Verbesserungspotential?
Den Glauben in unser Schweizer-System habe ich definitiv verloren. Nach dem negativen IV-Entscheid, der auf einem skandalösen Gutachten basierte, das die gesamte Krankheitsgeschichte in Abrede stellte, blitzte ich auch beim Sozialamt Müllheim ab – und dies, nachdem ich über 35 Jahre in unser System einbezahlt hatte. Präzise, ohne Selbstmitleid erzähle ich, wie ein Mensch unverschuldet in seelische und existenzielle Not geraten kann – und von den Schweizer Behörden im Stich gelassen wird. Über eine lange Zeitspanne war ich nicht einmal 20 Prozent leistungsfähig. Der Druck der verschiedenen Ämter war enorm. Heute bin ich davon überzeugt, dass gesundheitlich angeschlagene Menschen, die ein 50-Prozent-Pensum noch nicht leisten können, in viel niedrigeren Integrationsschritten in den ersten Arbeitsmarkt herangeführt werden sollten. Ich glaube, dass die meisten so langfristig in den Arbeitsmarkt zurückfänden und man sehr viel Steuergeld sparen könnte. Für solche Massnahmen müsste natürlich auch die Politik aktiv werden!
An wen richtet sich Ihr Buch?
Das Buch soll Menschen Mut machen, die in einer ähnlichen Situation stecken. Es soll aufzeigen, dass auch psychisch angeschlagene Menschen Rechte haben. Natürlich ist es nicht einfach, aber es gibt Stellen, die weiterhelfen. Ich selber habe mit Procap, Caritas Thurgau oder der Winterhilfe Thurgau hilfsbereite Stellen gefunden.
Sind Sie heute glücklich?
Ja! Ich habe eine Lebenspartnerin, auf die ich mich zu 100 Prozent verlassen kann. Sie hat mich in meiner schwierigsten Lebensphase nie fallen lassen. Ebenfalls bin ich stolz, dass ich seit eineinhalb Jahren wieder im Berufsleben Fuss gefasst habe. Heute blicke ich gelassen in die Zukunft. Die ganze Geschichte hat mich noch stärker gemacht. Mein heutiges Lebensmotto lautet: Geniesse den Augenblick, denn er ist Dein Leben!
Welchen Rat können Sie psychisch angeschlagenen Menschen geben?
Sie sollen rechtzeitig Hilfe holen. Der erste Schritt geht meist über den Hausarzt. Es ist keine Schande, «Schwäche» zu zeigen – nein, es ist sogar ein starkes Signal, wenn man das Schweigen durchbricht.
Interview: Stefan Böker